Das Tohuwabohu bei der Suche einer Wiege der Primaten und des Menschen

König Ödipus konnte das Rätsel der Sphinx, welches Wesen morgens vier, mittags zwei und abends drei Beine hat, lösen und dadurch das geflügelte Ungeheuer mit Löwenleib in den Abgrund treiben. Er kannte aber zu wenig sich selbst und seine Eltern. Unwissend tötete er seinen Vater und heiratete er seine Mutter.
Die erhellenden Einsichten von Koryphäen neuzeitlicher Naturwissenschaft wie Kopernikus, Galilei, Newton und Einstein brachten revolutionäre Erkenntnisse zu Tage. Bei der Frage nach der Wiege der Primaten und des Menschen besteht unter den Fachpersonen der Paläontologie aber noch kein Konsens. Die Ahnentafeln von den fossil ältesten Primaten zu Homo erectus, der ältesten fossil überlieferten Menschenart, werden ständig demontiert und durch neue ersetzt. Ein Blick auf die Studien der vergangenen Jahrzehnte demonstriert das humanphylogenetische Tohuwabohu.
Laut einer 2006 publizierten Studie des Paläontologen Zhe-Xi Luo vom Carnegie Museum of Natural History in Pittsburgh stammen die Urprimaten von spitzmausartigen Säugetieren ab, die nachts über den Boden huschten und sich von Insekten ernährten. Frühe Plazentatiere wie die fossile Art Eomania scansoria aus der chinesischen Provinz Liaoning könnten zu denjenigen Säugetieren gehören, aus denen die Primaten hervorgingen. Der 20 Gramm leichte Insektenfresser Eomania wurde vor etwa 125 Millionen Jahren eingebettet. Robert Martin vom Field Museum of Natural History in Chicago vermutete, dass der evolutionsbiologisch postulierte Urprimat vor 90 Millionen Jahren auf dem indisch-madagassischen Urkontinent gelebt haben könnte. Passende Fossilbelege würden noch gesucht.
Paläoanthropologen um Erik Seiffert von der Duke-Universität in Durham favorisierten die Vorstellung, dass der gemeinsame Urahne der echten Affen und Menschen vor mindestens 70 Millionen Jahren in Afrika beheimatet war und von Insektenfressern abstammen könnte. Ein Team um Charlotte-Anaïs Olivier vom Institut pluridisciplinaire Hubert Curien und der Universität Straßburg rekonstruierte die Lebensweise der frühen Primaten und kam 2023 zum Ergebnis, dass die meisten Primaten vor fast 70 Millionen Jahren als Paare lebten. Nur zehn bis 20 Prozent bevorzugten als Einzelgänger zu leben.
In einer 2014 veröffentlichten Studie von Forschern um Stephen Chester von der City University of New York wurde die rattengroße, nach dem Berg Purgatory Hill am Fundort in Montana benannte Gattung Purgatorius als der geologisch älteste bekannte Primat eingestuft. Die Untersuchung der Zähne und des für Baumsäugetiere typischen, flexibel drehbaren Fußgelenks legte die Vermutung nahe, dass der 65 Millionen Jahre alte Insektenfresser wie heutige Riesengleiter, Eich- und Spitzhörnchen im Geäst von Bäumen lebte.
2021 wies ein Team um den Biologen und Paläontologen Gregory Wilson Mantilla von der University of Washington an Hand von fünf Zahnfossilien zweier Spezies aus Sedimenten des frühen Paläozäns im nordöstlichen Montana darauf hin, dass die fossil ältesten Repräsentanten der Gattung Purgatorius bereits vor 65,9 Millionen Jahren und damit 139.000 bis 105.000 Jahre nach dem letzten Massenaussterben im frühen Tertiär lebten. Ihre vermuteten Wurzeln verlegte das Team in die späte Kreide, als die Dinosaurier noch lebten. Ernährt haben die kleinen Waldbewohner sich von Insekten und pflanzlichen Produkten wie Früchten.
Ein Expertenteam von drei US-amerikanischen Universitäten unter Leitung von Jonathan Bloch vom Museum für Naturkunde von Florida verglich die Skelette der im Yellowstone Nationalpark ausgegrabenen Säugetierarten Ignacius clarkforkensis und Dryomomys szalayi, die auf mindestens 56 Millionen Jahre datiert wurden, mit 173 charakteristischen Merkmalen von 85 später ausgestorbenen und rezenten Primaten und folgerte, die beiden Fossilien könnten zu den ältesten Primaten gehören. Bloch konstatierte 2007: „Unsere frühesten Primatenvorfahren hatten nur die Größe einer Maus, ernährten sich von Früchten und lebten in Bäumen.“ 2009 sah Bloch den hamstergroßen Primaten Ignacius graybullianus als einen frühen Seitenzweig im Stammbaum der Primaten bzw. als einen Cousin jener Hauptlinie an. Die Gehirngröße des 54 Millionen Jahre alten Fossils ähnelte einem Fingerhut.
Aus den vorliegenden Fossildaten folgerte die Anthropologin Mary Silcox von der Universität Winnipeg 2009, dass zwei etablierte Ansichten nicht mehr zutreffend seien: Das Klettern auf Bäumen und die Ernährung von Früchten bewirkten keine Zunahme des Gehirnvolumens. Und durch ein großes Gehirn unterschieden die Urprimaten sich nicht von den anderen Säugetiergruppen. Fossilarten wie Ignacius graybullianus orientierten sich zudem hauptsächlich mit der Nase. Optische Reize waren für sie vermutlich von sekundärer Bedeutung.
Christopher Beard vom Carnegie-Museum für Naturgeschichte in Pittsburgh stufte 2008 das maximal 30 Gramm leichte, 55 Millionen Jahre alte Säugetierfossil Teilhardina magnolina als den ältesten Primaten Amerikas ein. Es bevorzugte feuchtheiße Küstengebiete und könnte über eine Landbrücke von Sibirien nach Nordamerika gelangt sein. Der Anthropologe Richard Kay von der Duke-Universität in Durham vertrat 2008 ebenfalls die Position, dass frühe Primaten vor 55 Millionen Jahren in Nordamerika beheimatet waren. Zudem gab es sie in Asien und Europa.

Bevor weitere Studien zur frühen Stammesgeschichte der Primaten vorgestellt werden, wird ein kurzer Blick auf die Taxonomie geworfen. Im 18. Jahrhundert wurde der Mensch von dem schwedischen Naturforscher Carl von Linné auf Grund der anatomischen Ähnlichkeiten den Primaten („Herrentieren“) zugeordnet. Es gilt bis heute in der Biologie. Zum taxonomischen Schema der Primaten unterbreitete 1979 der Saarbrücker Zoologe Erich Steitz in „Die Evolution des Menschen“ den folgenden Vorschlag: Zur Ordnung der Primaten gehören die zwei Unterordnungen der Halbaffen wie die Spitzhörnchen, Lemuren und Koboldmakis sowie die echten Affen (Anthropoidea), zu denen die beiden Infraordnungen der Breit- und Schmalnasenaffen zählen. Die Schmalnasenaffen spalten sich in die Überfamilie der Hundsaffen wie Makaken, Paviane und Stummelaffen sowie die Überfamilie der Hominoidea auf. Innerhalb der Hominoidea finden sich drei Familien mit ausgestorbenen und rezenten Gattungen wie die Gibbons, großen Menschenaffen (Orang-Utan, Gorilla, Schimpanse, Bonobo) und Menschenartigen (Hominidae). Zu den Hominidae gehören fossil unter anderem die Rama- und Australopithecinae und die Homininae mit beispielsweise der fossilen Art Homo erectus und dem heutigen Menschen.
Ein anderes Schema unterscheidet bei den Anthropoidea die geografisch getrennten Neuwelt- und Altweltaffen. Typisch für die in Mittel- und Südamerika ansässigen Neuweltaffen sind die breite Nasenscheidewand und die seitlich platzierten Nasenlöcher, weshalb sie auch Breitnasenaffen genannt werden. Die Altweltaffen haben eine schmale Nasenwand und weiter nach vorne gerichtete Nasenlöcher, weshalb sie auch Schmalnasenaffen heißen. Zu den Altweltaffen zählen die Hunds- und Menschenaffen. Bei den Menschenaffen werden die Gibbons und die Großen Menschenaffen einschließlich des Menschen unterschieden.
Wieder ein anderes taxonomisches Schema grenzt die Feuchtnasenaffen wie Buschbabys, Fingertiere, Lemuren und Makis von den als höher entwickelt geltenden Trockennasenaffen wie die Koboldmakis und echten Affen ab. Auf Basis genetischer und epigenetischer Befunde ergibt sich allerdings ein Bild, das von vorgestellten Gestaltähnlichkeitsschemata abweicht.

„Der Fund ist ein großer Schritt auf dem Weg, den Verlauf der frühesten Phase der Evolution von Primaten und Menschen nachzuzeichnen“, stufte Ni Xijun von der Chinesischen Akademie der Wissenschaften in Peking 2013 das gut erhaltene Skelett eines Primaten ein, das von einem Bauer in Jingzhou in der Provinz Hubei entdeckt wurde. Der bei der Untersuchung beteiligte Christopher Beard vom Carnegie Museum of Natural History in Pittsburgh charakterisierte das 20 bis 30 Gramm wiegende, vom Kopf bis zum Schwanzende 22 Zentimeter große und auf 55 Millionen Jahre datierte Leichtgewicht: „Es sieht wie ein seltsamer Mischling aus – mit den Füßen eines kleinen Affen, den Armen, Beinen und Zähnen eines sehr primitiven Primaten und einem urtümlichen Kopf mit überraschend kleinen Augen.“ Zudem: „Archicebus unterscheidet sich radikal von jedem anderen der Wissenschaft bekannten Primaten, ob lebend oder als Fossil.“ Die Forscher reagierten bei der Inspektion der Anatomie des Fußes: „Wir waren geradezu geschockt, als wir bei diesem Fossil einen Fuß vorfanden, den wir eigentlich nur von den wesentlich jüngeren Anthropoiden kennen.“
Nach Einschätzung des Teams handelt es sich bei der ausgestorbenen Primatenart Archicebus achilles um den bisher ursprünglichsten Vertreter der heute lebenden Koboldmakis. Im Unterschied zu ihnen hatte der fossile Primat aber ziemlich kleine Augenhöhlen, was eine tagaktive Lebensweise nahe legt. Die großen Eckzähne und spitzen Vorderbackenzähne passen zu einer Ernährungsweise, bei der vor allem Insekten verzehrt wurden. Vermutlich lebte der mit relativ kurzen Vordergliedmaßen und langen Hinterbeinen ausgestattete Primat auf Bäumen in einem tropischen Wald mit Nähe zu einem Gewässer. Seine auffallend großen und dadurch modern wirkenden Füße und kleinen Augen ähneln den entsprechenden Merkmalen der Anthropoidea. Durch den Fund rückte China als Ursprungsregion der frühen Primaten in den Blick.
Die von einem Forscherteam um Sunil Bajpai vom Indian Institute of Technology in Roorkee untersuchten Backenzähne führten 2008 zur Schlussfolgerung, der älteste gemeinsame Ahne der echten Affen und Menschenaffen könnte vor circa 54,5 Millionen Jahren im indischen Bundesstaat Gujarat sich von Früchten und Insekten ernährt haben. Nachkommen des mausgroßen, 70 Gramm wiegenden Primaten Anthrasimias gujaratensis könnten auf den afrikanischen Kontinent gewandert sein.
Mit Schlagzeilen wie „Urahn von Mensch und Affen entdeckt“ und reißerischen Hinweisen wie „Das weltweit älteste komplett erhaltene Exemplar eines Primaten“ oder „Der bestdokumentierte Urprimat“ wurde 2009 der von manchen Forschern als das achte Weltwunder gepriesene, 1983 von einem Privatsammler in der Ölschiefergrube Messel bei Darmstadt gefundene, 47 Millionen Jahre alte Darwinius masillae medial präsentiert. Ein US-Fernsehsender stufte den Fund ähnlich bedeutsam wie die Mondlandung oder das Attentat auf Präsident John F. Kennedy ein. Was lag dieser Euphorie zu Grunde?
Der norwegische Paläontologe Jörn Hurum kaufte 2007 das vom Kopf bis zur Schwanzspitze 58 Zentimeter große Fossil eines weiblichen Jungtieres und nannte es „Ida“ nach seiner Tochter. Auch Inhalte des Verdauungstraktes und Gewebereste sind erhalten. Hurum pries das Fossil als das älteste komplett erhaltene Exemplar eines Primaten an. Zum dadurch inszenierten Medienrummel meinte er: „Jede Popgruppe tut dasselbe. Jeder Sportler macht das. Wir müssen beginnen, in der Wissenschaft ebenfalls so zu denken.“
Ein Team um Jens Lorenz Franzen vom Frankfurter Senckenberg-Institut untersuchte Ida und folgerte 2009, die taxonomische Einordnung des Fossils sei noch unklar. Das Fossil vereinige verschiedene Merkmale der heutigen Feuchtnasenaffen wie der Lemuren und Trockennasenaffen wie der Gibbons und Schimpansen. Im Unterschied zu den Lemuren habe Ida keine vorstehenden Schneidezähne zur Fellpflege und keine Putzkralle an der zweiten Zehe. Da Ida ein affentypisches Sprunggelenk besitzt, könnte sie nachtaktiv auf Bäumen gelebt haben. Zur Position im „Evolutionsbaum des Menschen“ äußerte Franzen, Darwinius masillae könne wegen der nichtmenschenähnlichen Anatomie zwar „nicht unsere Ur-Ur-Ur-Großmutter, aber unsere Ur-Ur-Ur-Großtante“ sein. Ähnlich ordnete der Paläobiologe Jörg Habersetzer 2009 das Fossil ein: „Das Tier ist nicht unser direkter Vorfahre, sondern eine Art Ur-Ur-Urgroßtante“.
Es dauerte nicht lange, bis das Medienspektakel von Ernüchterung abgelöst wurde. In einer Studie von 2009 verglich ein Team um den US-amerikanischen Anatomen Erik Seiffert 360 Merkmale von 117 rezenten und fossilen Primatenarten und resümierte, dass Ida weitaus mehr Eigenschaften mit den Lemuren als mit den Menschenaffen gemeinsam habe. Experten wie Richard Kay, Christopher Beard und Elwyn Simons von der Duke Universität in Durham wiesen 2009 darauf hin, dass das Team von Jörn Hurum nur 30 bis 40 statt der üblichen 200 bis 400 Merkmale mit denen anderer Fossilien verglichen und die gut ins Konzept passenden Rosinen herausgepickt habe. Da Hinweise auf Fossilienanalysen der zurückliegenden 15 Jahre fehlten, entstünde der Eindruck, als würde man ins Jahr 1994 zurückversetzt. Der Anatom Fred Spoor vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig und vom Naturhistorischen Museum in London wies nach der Entdeckung von Archicebus darauf hin, dass die Trocken- und Feuchtnasenaffen sich schon früh getrennt hätten. Daher gehöre Ida zu den letzteren. Ein Bindeglied zwischen den beiden Gruppen sei sie keineswegs.
Relikte von vier circa 38/39 Millionen Jahre alten und 120 bis 470 Gramm schweren Primaten aus der libyschen Formation Dur At-Talah, die Forscher um den Paläontologen Jean-Jacques Jaeger von der Universität Poitiers untersuchten, verlegten die Ursprungsregion ins nördliche Afrika. Die relativ kleinen Primaten ernährten sich vermutlich von Insekten. Auf Grund der anatomischen Differenzen gehören die vier Fossilien zu drei Familien, die zur gleichen Zeit vorkamen. 2010 vermutete das Team, asiatische Vorfahren der gefundenen Primaten seien nach Afrika gewandert. Den Ursprung in Afrika sah es als unwahrscheinlich an. Ungeachtet enormer Ausgrabungsbemühungen sei auf dem afrikanischen Terrain ein gemeinsamer Ahne der rezenten Anthropoiden noch nicht gefunden worden.
Nach der Untersuchung von vier Zähnen des etwa 40 Millionen Jahre alten und 100 Gramm wiegenden Primaten Afrasia djijidae aus Myanmar bestätigte Jaeger 2012: „Die anthropoiden Primaten gab es in Afrika vorher einfach nicht.“ Da die Zahnstrukturen des Primaten aus Myanmar etwas ursprünglicher als die der libyschen Fossilien seien, werde Asien als Ursprungsheimat favorisiert. Allerdings trennte vor 40 Millionen Jahren nach vorherrschender Lehrmeinung das Tethys-Meer den afrikanischen und eurasischen Kontinent. Wie asiatische Anthropoiden den Meeresarm überquert haben könnten, bedarf noch einer Erklärung. Die Forscher meinten lediglich, irgendwie müssten sie es bewerkstelligt haben. Schon 2010 stellte Christopher Beard fest: „Wenn unsere frühen anthropoiden Ahnen nicht von Asien nach Afrika ausgewandert wären, gäbe es uns heute nicht.“ Und zwei Jahre danach: „Wenn es die urzeitliche Einwanderung nicht gegeben hätte, wären wir heute nicht hier.“
Ein internationales Team um Laurent Marivaux von der Universität Montpellier platzierte die Wiege der Primaten 2009 erneut nach Asien. Funde von zu den Familien der Amphipithecidae und Eosimiidae zählenden Fossilien legten den Schluss nahe, dass die Vorfahren rezenter Primaten vor 38 Millionen Jahren in Pakistan lebten. Weitere Ursprungsgebiete in Asien seien China, Burma und Thailand. Ein fossiler Beleg sei die Spezies Ganlea megacanina, die angesichts stark abgenutzter Eckzähne sogar harte Nussschalen geöffnet haben könnte.
Zu den jüngeren Primatenfunden zählt ein 29 bis 28 Millionen Jahre alter Schädel eines Affen aus der Provinz Hijaz im westlichen Saudi-Arabien, den Forscher um den Paläontologen William Sanders von der University of Michigan 2009 in Ann Arbor präsentierten. Der nur 15 bis 20 Kilogramm leichte Saadanius hijazensis mit röhrenförmig ausgezogenen Mittelohrknochen könnte auf Grund von Zahn-, Augen- und Nebenhöhlenmerkmalen ein gemeinsamer Ahne der Schmalnasen und Hominoiden gewesen sein. Laura MacLatchy von der University of Michigan vermutete 2010, Saadanius könne eng mit jenen Schmalnasen verwandt sein, die direkt an der Basis der Abspaltung der Menschenaffen standen. Die Deutung anatomischer Daten weiche aber von genetischen Studien ab, wonach die Abspaltung sich schon vor 35 bis 30 Millionen Jahren ereignet haben könnte.
Statt der Beschreibung späterer Spezies wie Proconsul africanus, Pierolapithecus catalaunicus, Ramapithecus brevirostris, Nakalipithecus nakayamai, Chororapithecus abyssinicus, Kenyanthropus platyops, Orrorin tugenensis, Ardipithecus ramidus kadabba, Sahelanthropus tchadensis und der verschiedenen Arten der Australopithecinen werden nun Statements von Fachpersonen der Palä(o)anthropologie wiedergegeben. Sie bringen mehr Licht in die Zuverlässigkeit humanphylogenetischer Konzepte.

Yves Coppens vom Collège de France in Paris bemerkte 1995 zum Tohuwabohu an der Wiege der Menschheit: „Je mehr fossile Knochen wir finden, desto mehr verschiedenen Vormenschen sehen wir uns gegenüber.“ Zudem: „Der zuletzt gefundene Australopithecus lebte zeitgleich mit dem ersten Menschen. Der Artenbaum verzweigt sich immer weiter und unsere Herkunft wird ein richtiges Puzzle.“
Sein Kollege Pascal Picq betonte 2003: „Die Basis unseres Stammbaumes vor Erschienen der Gattung Homo ist unübersichtlicher als je zuvor.“ Er stellte fest: „Das eigentliche Problem der Paläoanthropologie scheint zu sein, dass sich jeder gern sein eigenes Bild vom Menschen macht.“
Brigitte Senut vom Naturhistorischen Museum in Paris zufolge ist die Frage, ab wann eine Art kein Affe mehr ist, sondern die Barriere zum Menschen hin bereits überschritten hat, eine paläontologisch längst noch nicht geklärte Herausforderung. 2005 gestand sie: „Es ist wichtig, dass wir Knochen finden, die etwa acht Millionen Jahre alt sind, dann können wir vielleicht etwas über die Anfänge des Menschen sagen. Es gibt viele offene Fragen. Die Molekularbiologie sagt etwa, dass der letzte gemeinsame Vorfahre von Schimpanse und Mensch vor rund sechs Millionen Jahren gelebt haben muss. Die Fossilien sagen aber etwas ganz anderes aus.“
Henry Gee, verantwortlicher Redakteur von Nature, konstatierte mit Blick auf miozäne Fossilfunde: „Es wird immer deutlicher, dass die althergebrachte Vorstellung von der Menschheitsevolution nicht der Realität entspricht. Eine Schritt für Schritt nachvollziehbare Wandlung von einem Affenwesen über immer menschlichere Zwischenstufen bis hin zum modernen Menschen hat vermutlich nicht stattgefunden – zumindest nicht in geordneter Reihenfolge. Stattdessen hat es offenbar anatomische Parallelentwicklungen bei den verschiedenen Linien der Vorfahren gegeben, und das auch noch zu verschiedenen Zeiten. Die Zuordnung neuer Skelettfunde wird für die Experten immer schwieriger.“
Bernard Wood räumte ein: „Hier haben wir überzeugende Evidenzen, dass unsere eigene Geschichte genauso kompliziert und schwierig nachzuvollziehen ist wie die jeder anderen Organismengruppe.“ So sei Sahelanthropus möglicherweise der Anzeiger eines plötzlichen Auftretens von verschiedenen Menschenaffenartigen im Miozön mit vergleichbarer Vielgestaltigkeit wie bei den kambrischen Burgess-Shale-Wirbellosen.
Leslie C. Aiello und Mark Collard schlugen vor: „Wahrscheinlich ist es vorerst am besten, die Benennung von Vorfahren zu vermeiden und eine einfache Teilung vorzunehmen, nämlich eine Teilung zwischen menschenähnlichen Formen mit archaischen Aspekten (Orrorin, Ardipithecus, Australopithecus inklusive Paranthropus und Kenyanthropus) und solchen mit modernen Aspekten (Homo sapiens und die anderen Homo-Arten).“
Der Paläontologe Chris Stringer vom Naturhistorischen Museum in London gestand 2005 in der Zeitschrift Spektrum der Wissenschaft: „Trotz mancher Lücken und Unsicherheiten glaubten die Paläanthropologen die menschliche Evolution in den Grundzügen zu kennen. Der Fund der Zwerghominiden von Flores bringt diese Überzeugung zum Einsturz und führt uns deutlich vor Augen, wie wenig wir doch letztlich über die Geschichte unserer Art wissen.“
Ian Tattershall vom American Museum of Natural History in New York meinte in Anbetracht des als „Hobbit“ bekannt gewordenen Homo floresiensis, er zeige eindrucksvoll, dass der Stammbaum des Menschen eine Buschform mit vielen Ästen und Verzweigungen darstellt. Er gab zu bedenken: „Dass der Homo sapiens heute als einziger Hominid die Erde besiedelt, ist eine Ausnahme in der menschlichen Geschichte.“
Ähnlich wurde der Wissensstand der Paläanthropologie 2003 in der Zeitschrift Bild der Wissenschaft charakterisiert. Unter der Überschrift „Den Urahn gab es nicht!“ hielt Thorwald Ewe fest: „Jahrzehnte lang waren Paläanthropologen auf der Suche nach ´dem´ gemeinsamen Vorfahren von Menschenaffe und Mensch. Heute müssen sie erkennen: Sie haben ein Phantom gejagt. Der Stammbaum der Hominiden ist in Wahrheit ein verfilztes Gestrüpp.“ Zur Bestätigung seiner Behauptung zitierte er zwei Sätze des Paläobiologen Friedemann Schrenk von der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt: „Auch ich habe jahrelang diese Idee des ´missing link´ im Kopf gehabt. Wenn ich das rückblickend analysiere, kommt es mir vor, als wäre ich regelrecht verblendet gewesen.“
Friedemann Schrenk, ausgezeichnet mit dem Communicator-Preis der DFG für die gelungene Vermittlung seiner Forschungsarbeiten, hob 2001 unter der Überschrift „Vom Stammbaum zum Stammbusch. Neue Funde in Ostafrika zeigen, dass es in der frühen Geschichte der Menschheit viel mehr Hominiden-Typen gab, als man bisher vermutete“ hervor: „Das vergangene Jahrzehnt gehört zu den glanzvollsten Dekaden in der Geschichte der Paläoanthropologie, der auf fossile Funde gegründeten Wissenschaft vom vorgeschichtlichen Menschen und seinen Vorgängern. Forscher entdeckten eine Reihe von Fossilien, die die Familie afrikanischer Hominiden, unserer frühesten Vorfahren, erweitern. Zugleich wurden jedoch die Verwandtschaftsverhältnisse ziemlich unübersichtlich: Der Stammbaum wurde zum Stammbusch.“
In der Wochenzeitung Rheinischer Merkur äußerte er 2002 zum ‚missing link’: „Es gab kein missing link, sondern eine Verflechtung geografischer Varianten der ersten Vormenschen in Zeit und Raum entlang der Grenzen des schrumpfenden tropischen Regenwaldes.“ 2004 hielt er in der Tageszeitung Die Welt fest: „Das ´missing link´ in der Evolution des Menschen hat es möglicherweise nie gegeben.“ Zur Zuverlässigkeit paläoanthropologischer Konzepte sagte er 2006 im Deutschlandradio Kultur: „Aber das Interessante ist ja, dass natürlich überall Fantasie drinsteckt, auch bei unseren eigenen Forschungen. Auch bei unseren Ergebnissen, denn wir sind ja auch auf Fantasie angewiesen. Denn es war ja damals keiner dabei, als die Dinosaurier oder in unserem Fall die Urmenschen gelebt haben. Es wurde ja nichts gefilmt oder fotografiert. Das heißt, wir interpretieren. Und da die Fossilien ja nicht sprechen können, kommt es letztlich auf uns an, was wir da hineininterpretieren. Das hat viel mit Fantasie zu tun.“ Die Frage, ob es nicht um das geht, wie es wirklich war, sondern darum, mit Forschungen dem möglichst nahe zu kommen, beantwortete er: „Ja, es geht nicht um richtig oder falsch. Darum kann es auch gar nicht gehen, denn wir haben ja gar keine Belege. Es gibt ja keine Inschriften oder Urkunden aus dieser Zeit, sondern wir interpretieren und das kann sich ändern. Das kann in 50 Jahren anders sein, obwohl die Fossilien, um die es geht, immer noch genau dieselben sind. Also es geht um Gedankenspiele, letztendlich um Hypothesen.“
Es dauerte keine 50 Jahre, bis zwei Säulen des humanphylogenetischen Gebäudes 2017 durch Graecopithecus freybergi und 2019 durch Danuvius guggenmosi einstürzten. Ein auf 7,175 Millionen Jahre datierter Unterkiefer aus Griechenland und ein auf 7,24 Millionen Jahre datierter Zahn aus Bulgarien von Graecopithecus freybergi mit für Menschen typischen, weitgehend verschmolzenen Zahnwurzeln legten eine frühere Abspaltung der Entwicklungslinien von Menschenaffen und Menschen in einer Savannenlandschaft im östlichen Mittelmeerraum nahe. Durch den Fund könnte der Paläontologin Madelaine Böhme von der Universität Tübingen zufolge die bisherige „East Side Story“, wonach der Vormensch in Ostafrika entstanden sei, nun durch die europäische „North Side Story“ in Frage gestellt worden sein. An Hand der Kiefergröße sei davon auszugehen, dass der etwa 40 Kilogramm schwere „El Graeco“ die Größe eines weiblichen Schimpansen hatte.
Jean-Jacques Hublin vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig äußerte zum Fund: „Die Aufspaltung der Hominiden-Vorfahren des Menschen und der Menschenaffen ist schlecht dokumentiert.“ Er ergänzte: „Es ist nicht das erste Mal, dass ein Vorkommen des ersteren im reichen Fossilienbericht Südeuropas vorgeschlagen wird.“
Durch die Entdeckung von Graecopithecus freybergi wurde die etablierte Vorstellung der Evolutionsbiologie in zwei Punkten in Frage gestellt: Der gemeinsame Vorfahre der Menschenaffen und Menschen könnte im südlichen Europa gelebt haben. Und die zwei Linien trennten sich schon vor über sieben Millionen Jahren.
Der auf 11,62 Millionen Jahre datierte Danuvius guggenmosi aus dem Allgäu besaß ähnliche Körperproportionen wie Zwergschimpansen, verwendete die hangelnde Fortbewegungsweise und vermutlich den zweibeinigen Gang mit gestreckten unteren Gliedmaßen. Dies vermutete 2019 ein Team um Madelaine Böhme. Demnach entstand der bipede Gang nicht in Afrika. Er existierte bei den Menschenaffen schon lange vor der Abspaltung der Homininen vom gemeinsamen Ahnen der Großaffen und der Menschen. Laut Böhme ist es „nahezu ausgeschlossen“, dass noch ältere aufrecht gehende Menschenaffen in Afrika gelebt haben. „Das ist eine Sternstunde der Paläoanthropologie und ein Paradigmenwechsel“, kommentierte sie den Befund. Die bisherige Sichtweise auf die Evolution der großen Menschenaffen und des Menschen sei durch Danuvius grundlegend in Frage gestellt: „Dass sich der Prozess des aufrechten Gangs in Europa vollzog, erschüttert die Grundfeste der Paläoanthropologie.“
Es folgt das Pünktchen auf dem „i“: 2020 wiesen 27 Fachpersonen darauf hin, dass Individuen von Australopithecus sediba, Paranthropus robustus und Homo erectus zur gleichen Zeit nebeneinander in Südafrika gelebt haben. Für die Datierung der Fossilien und Bodenschichten in der Drimolen-Karsthöhle im Nordwesten von Johannesburg verwendete das Team um Andy Herries von der La Trobe University im australischen Bundoore eine Kombination der Uran-Thorium- und Elektronenspin-Resonanz-Datierung und glich das Ergebnis mit der damaligen Erdmagnetfeldausrichtung ab. Dabei ermittelte es für die Fragmente des Schädels DNH 134 von einem zwei bis drei Jahre alten Homo erectus und die Schädelbruchstücke eines Paranthropus robustus ein Alter von 2,04 bis 1,95 Millionen Jahren. Schon vorher wurden ähnlich alte Fossilien von Australopithecus sediba in der nahe gelegenen Malapa-Höhle entdeckt. Demnach lebten Individuen von Homo erectus, Australopithecus sediba und Paranthropus robustus zur gleichen Zeit in der gleichen Gegend.
Die Paranthropinen („Nebenmenschen“) waren eine nicht zu den Menschen zählende kräftige Gattung. Paranthropus boisei, ein enger Verwandter des robustus, ernährte sich laut einer Zahnschmelzanalyse überwiegend von Gras. Mit seinem nussknackerähnlichen Kiefer mit extrem flachen Backenzähnen fraß er auf der Weide das Gleiche wie Zebras und Warzenschweine. Diesbezüglich unterscheidet er sich deutlich von den übrigen Primaten.
Das Team betonte, durch den Fund sei Afrika als Heimat der ältesten Menschen bestätigt worden. Homo erectus müsste aber nicht in Südafrika entstanden sein. Auf Grund der vielen Fossilfunde in Ostafrika könnte die Ursprungsregion auch dort liegen. Falls es zuträfe, habe es nicht lange gedauert, bis Erectus-Gruppen kraft ihrer hohen Mobilität in das über 8.000 Kilometer entfernte Südafrika gelangten. Da sie als benachbarte Zeitgenossen von Australopithecus sediba in Südafrika lebten, kann Homo erectus nicht ein Nachfahre von Australopithecus sediba sein und die Herkunft des Menschen ist fossil noch offen.
In den zurückliegenden Jahrzehnten haben die Ausgrabungen von fossilen Primatenarten mehr offene Fragen als klare Einsichten geliefert. In Anbetracht des unter Fachpersonen kontrovers diskutierten Wann und Wo des Primatenursprungs und des phylogenetischen Wegs zu den ältesten Menschen sollte in Publikationen, Vorlesungen, Biologieunterrichtsstunden, TV-Beiträgen und Vorträgen auf dogmatische Aussagen verzichtet werden. Die fossile Wiege des Menschen wird noch gesucht.